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Neue Begriffe zur Sterbehilfe

im Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25.06.2010
Behandlungsunterlassung, Behandlungsbegrenzung, Behandlungsabbruch


Die Zweite Strafkammer des Bundesgerichtshofs hat in einem Urteil vom 25. Juni 2010 in der Strafsache gegen Rechtsanwalt Wolfgang Putz wegen versuchten Totschlags den Begriff „Sterbehilfe“ erläutert. Die Unterscheidung von passiver und aktiver Sterbehilfe sei nicht geeignet, um die Grenze des Verbots der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) sicher zu bestimmen. Die erlaubte Sterbehilfe wird als Behandlungsunterlassung, Behandlungsbegrenzung und Behandlungsabbruch beschrieben.


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2. Strafsenat - 25.6.2010 - Aktenzeichen 2 StR 454/09

Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25.06.2010, Aktenzeichen 2 StR 454/09, in der Strafsache wegen versuchten Totschlags
S. 14 ff., Absatz 26 ff. Abgrenzung gerechtfertigter und rechtswidriger Sterbehilfe

4. Das Landgericht hat eine Rechtfertigung des Angeklagten und der Mittäterin durch Einwilligung der betroffenen Patientin abgelehnt, weil nach seiner Auffassung die Voraussetzungen einer nach bisherigem Recht zulässigen so genannten passiven Sterbehilfe durch Unterlassen der weiteren künstlichen Ernährung nicht vorgelegen haben; es hat das Durchtrennen des Schlauchs der PEG-Sonde als aktives Handeln gewertet und deshalb der Einwilligung der Patientin eine rechtfertigende Wirkung abgesprochen.

a) Diese Ansicht entspricht der bisher in Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend vertretenen Auffassung, wonach zwischen (unter bestimmten Bedingungen) erlaubter "passiver" und "indirekter" sowie stets verbotener "aktiver" Sterbehilfe zu unterscheiden sei (… ). Das bloße Einstellen künstlicher Ernährung ist danach schon wegen seines äußeren Erscheinungsbildes, jedenfalls aber nach dem Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens, nicht als aktives Tun, sondern als Unterlassen und damit als "passives" Verhalten angesehen worden (… ). Eine zulässige "passive Sterbehilfe" setzt auf der Grundlage dieser Differenzierung nach bisher herrschender Meinung deshalb stets ein Unterlassen im Rechtssinn (§ 13 StGB) voraus; aktives Handeln im natürlichen Sinne soll da nach stets als rechtswidriges Tötungsdelikt im Sinne der §§ 212, 216 StGB strafbar sein (… ).

b) An diesem an den äußeren Erscheinungsformen von Tun und Unter-lassen orientierten Kriterium für die Abgrenzung zwischen gerechtfertigter und rechtswidriger Herbeiführung des Todes mit Einwilligung oder mutmaßlicher Einwilligung des betroffenen Patienten hält der Senat nicht fest.

cc) Da eine Differenzierung nach aktivem und passivem Handeln nach äußerlichen Kriterien nicht geeignet ist, sachgerecht und mit dem Anspruch auf Einzelfallgerechtigkeit die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer eine Rechtfertigung des Handelns durch den auf das Unterlassen oder den Abbruch der medizinischen Behandlung gerichteten Willen des Patienten anzuerkennen ist, müssen andere Kriterien gelten, anhand derer diese Unterscheidung vorgenommen werden kann. Diese ergeben sich aus den Begriffen der "Sterbehilfe" und des "Behandlungsabbruchs" selbst und aus der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Ordnung.

Der Begriff der Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung, -begrenzung oder -abbruch setzt voraus, dass die betroffene Person lebensbedrohlich erkrankt ist und die betreffende Maßnahme medizinisch zur Erhaltung oder Verlängerung des Lebens geeignet ist. Nur in diesem engen Zusammenhang hat der Begriff der "Sterbehilfe" einen systematischen und strafrechtlich legitimierenden Sinn. Vorsätzliche lebensbeendende Handlungen, die außerhalb eines solchen Zusammenhangs mit einer medizinischen Behandlung einer Erkrankung vorgenommen werden, sind einer Rechtfertigung durch Einwilligung dagegen von vornherein nicht zugänglich; dies ergibt sich ohne Weiteres aus § 216 und § 228 StGB und den diesen Vorschriften zugrunde liegenden Wertungen unserer Rechtsordnung.

Eine durch Einwilligung gerechtfertigte Handlung der Sterbehilfe setzt überdies voraus, dass sie objektiv und subjektiv unmittelbar auf eine medizinische Behandlung im oben genannten Sinn bezogen ist. Erfasst werden hiervon nur das Unterlassen einer lebenserhaltenden Behandlung oder ihr Abbruch so-wie Handlungen in der Form der so genannten "indirekten Sterbehilfe", die unter Inkaufnahme eines möglichen vorzeitigen Todeseintritts als Nebenfolge einer medizinisch indizierten palliativen Maßnahme erfolgen.

Das aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG abgeleitete Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen legitimiert die Person zur Abwehr gegen nicht gewollte Eingriffe in ihre körperliche Unversehrtheit und in den unbeeinflussten Fortgang ihres Lebens und Sterbens; es gewährt ihr aber kein Recht oder gar einen Anspruch darauf, Dritte zu selbständigen Eingriffen in das Leben ohne Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung zu veranlassen. Eine Rechtfertigung durch Einwilligung kommt daher nur in Betracht, wenn sich das Handeln darauf beschränkt, einen Zustand (wieder-)herzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lässt, indem zwar Leiden gelindert, die Krankheit aber nicht (mehr) behandelt wird, so dass der Patient letztlich dem Sterben überlassen wird. Nicht erfasst sind dagegen Fälle eines gezielten Eingriffs, der die Beendigung des Lebens vom Krankheitsprozess abkoppelt (… ).

Eine solche Unterscheidung nach den dem Begriff des Behandlungsabbruchs immanenten Kriterien der Behandlungsbezogenheit und der Verwirklichung des auf die Behandlung bezogenen Willens der betroffenen Person ist besser als die bisherige, dogmatisch fragwürdige und praktisch kaum durchführbare Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Handeln geeignet, dem Gewicht der betroffenen Rechtsgüter in der Abwägung Geltung zu verschaffen und für alle Beteiligten eine klare rechtliche Orientierung zu bieten.

Das Urteil mit Überschriften und Inhaltsverzeichnis (Ergänzung): BGH-Rechtslage.htm

Wolfgang Putz (Rechtsanwalt) und Elke Gloor haben über das Strafverfahren, an dessen Ende der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshof dieses Urteil gefällt hat, ein Buch geschrieben: Sterben dürfen, Hoffmann und Campe, 2011
http://www.hoffmann-und-campe.de/go/sterben-duerfen

 

 

 

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August 2010 - http://sterberecht.homepage.t-online.de - Letzte Aktualisierung: 06.06.2012